Vogelwicke
Volgelwicke
Es ist die hohe Sommerzeit mit der uns wie aus anderen Welten hergewehten Milde süßer Lindendüfte. Auch auf dem Friedhof unseres Dorfes blühten üppig und mit wahrhaft orchestraler Pracht die Rosen. Der kleine immergrüne Taxusstrauch auf dem schmalen Kindergrab war aber nach zwei Jahren ein noch immer dunkles Sinnbild tiefer Traurigkeit. Ich sah am Sonntagnachmittag die junge Mutter am Grabe sitzen, und da ich, dieweil ich sie kannte, behutsam auf sie zuging, lächelte sie und wies mit ihrem Schirm auf den kleinen Taxusstrauch. Es war weiter nichts, als daß eine Vogelwicke an ihm hinaufgewachsen war, ein kräftiger Stengel hatte sich angeklammert und war mit Blättern und mit Blüten hochgeklettert, daß es den Eindruck erwecken mußte, als habe diese doch so zarte Pflanze einen Willen daran gesetzt, mit ihrer grünen Helligkeit das ganze Dunkel dieses Trauerstrauches zu überwuchern. Und was dann oben den Taxusstrauch noch überragte, waren Blätterzweige, die mit einer Blütentraube in dem leicht- und lichtbewegten Sommerwinde in die Sonne winkten. Schöner und ausdrucksvoller konnte die Pflanze auch nicht in Erscheinung treten als vor dem dunklen Hintergrund, und zwar in der Einheit ihrer Vielgestaltigkeit der gegliederten Fiederblätter, mit den immer bewegt züngelnden Rankenenden und den rotvioletten Blütentrauben, die wie schmucke Raupen scheinbar an dem Strauch nach oben kletterten. Aber wir schritten alsbald gemeinsam den kurzen Weg zum Dorf in wohl etwas freudigerer Stimmung. Wenn die Glut der Sonne heiß auf der Erde und den reifenden Feldern liegt, dann ist wahrhaft Sommer innen und außen. Rote Diademe funkeln aus dem Gold der Halme, blaue Edelsteine, und die Sonnenkinderantlitze der Kamillen strahlen weiß und golden in das Sommerlicht. Aber ist es nicht, wenn eine Woge Wind das Feld bewegt, als wenn sich gerade die leicht bewegten Vogelwicken liebend um die Halme und die Raden und Kornblumen rankten in trunkener sommerlicher Daseinsfreude? Es ist die schwebende, wie von den Sonnenstrahlen goldgesegnete Musik des Bienensummens über weißem Klee, des Brummeins und des Summens allenthalben, wonach der Sommer seinen Namen hat. Alles Leben strebt zur Erfüllung und zur Reife, hebt sich vom Boden und verklärt sich wie die rankende Vogelwicke sonnentrunken in das Licht.
Wir sprachen nicht darüber, die junge leidende Frau und ich, aber es war wohl so, daß sie dem Sommer in der Weise, wie die Vogelwicke ihr auf dem Kirchhof zum neuen Sinnbild geworden war, im innersten Sein und Wesen gehuldigt hatte.
Quellen: Erich Bockemühl Heimatkalender 1966